Wie auch bei vielen Menschen in unserer Bevölkerung, haben die Übergriffe auf Rettungspersonal in der Silvesternacht Schrecken und völliges Unverständnis bei mir hervorgerufen. Auch wenn diese massiven Übergriffe wohl nicht die Regel sind.
Die Zunahme an Gewalt in der präklinischen und auch klinischen Notfallversorgung ist in den letzten Jahren unter anderem durch die mediale Berichterstattung in den Fokus gerückt und wird durch verschiedene Studienergebnisse untermauert. Aktuelle Studien zeigen auf, dass die Anzahl von gewalttätigen Übergriffen in beiden Sektoren zunimmt. In den letzten fünf Jahren wird ein stetiger Anstieg der Anzahl an gewalttätigen Übergriffen verzeichnet. Das Baden-Württembergische Innenministerium erfasste einen dreifachen Anstieg der Gewalt auf Rettungskräfte seit 2011. Sie verzeichneten ebenso eine Steigerung bei den körperlichen Attacken im Zeitraum von 2017-2019 auf 190 Fälle. 2017 betrug die Anzahl noch 139 Fälle.
Diese Entwicklung zeigt sich nicht nur in Deutschland, dieses ist ein internationales Problem.
Die Weltgesundheitsorganisation beschreibt Gewalt als „absichtliche(n) Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichen körperlichen Zwang oder physische Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychische Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt“. Es werden zwei Arten von Gewalt unterschieden. Die körperliche und verbale Gewalt. Unter körperliche Gewalt werden Tätigkeiten wie Schlagen, Treten, gezieltes Bespucken und Beißen zusammengefasst. Diese gehen häufig mit verbaler Gewalt oder vorheriger massiver Gewaltandrohung einher. Verbale Gewalt impliziert Kommunikationsformen, bei der die Sprache gezielt eingesetzt wird, um den Anderen zu beleidigen, zu demütigen oder ihn auszugrenzen. Dieses wird häufig mit Mimik und Gestik untermauert.
Für die Notaufnahmen liegen bereits Berichte über gewalttätige Angriffe auf medizinisches Personal aus den neunziger Jahren vor und stammen im Schwerpunkt aus den USA.
Eine 2017 erstellte Auswertung von Studien zum Auftreten von Gewalt in Notaufnahmen zeigt auf, dass Mitarbeitende in den Notaufnahmen bei 36 von 10.000 Behandlungsfällen mit einer Form von Gewalt konfrontiert sind. Die internationalen Daten ermitteln, dass es zu mindestens einem Vorfall die Woche pro Notaufnahme kommt. Jedoch wird von einem „under-reporting“ ausgegangen, da gerade verbale Gewalt häufig nicht gemeldet wird. Denn viele Mitarbeiter:innen nehmen das Erfahren von Gewalt im Arbeitskontext als Teil ihres Berufes an. Dabei kann das regelmäßige Erleben von gewalttätigen, verbalen oder körperlichen Übergriffen, Frustration und den Ausstieg aus dem Beruf zur Folge haben. Dieses hätte zur Folge, dass die prekäre personelle Situation in den Kliniken weiter verschärft werden würde. In allen ausgewerteten Studien gehen die Übergriffe meist von dem/den Patienten: innen aus. Häufig sind Substanzmissbrauch oder psychische Erkrankungen beeinflussende Faktoren. Die Angriffe finden vornehmlich am späten Nachmittag und in den Nachtstunden statt. Die meisten Aussagen der Studien zur Gewalt in Notaufnahmen decken sich mit den Daten aus dem Rettungsdienst. Auch Mitarbeitende in der präklinischen Notfallversorgung sehen sich vor allem verbaler Gewalt ausgesetzt, jedoch ist der Anteil an körperlichen Übergriffe, wie z. B. Schubsen, Treten und Schlagen höher. Jeder Dritte im Einsatz befindliche Mitarbeitende berichtet davon, dass dieser im Einsatz geschlagen, angerempelt und geschubst wurde. In deutschen Großstädten betrifft es bereits fast jeden zweiten. Dort sind ebenso fast 80% der Rettungskräfte bereits im Arbeitskontext mit Feuerwerkskörpern beworfen worden.
Die erhobenen und ausgewerteten Daten zeigen auf, dass in der Notfallversorgung beschäftigte Mitarbeitende häufig schwierigen und gefährdeten Situationen ausgesetzt sind. So erscheint es erforderlich, diese durch Erweiterung der Kompetenzen in der Deeskalation und Kommunikation für schwierige Umstände zu wappnen und Angebote zu schaffen, die nach traumatischen Erlebnisse zur Unterstützung zur Verfügung stehen.
Mir stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie man dieser Gleichgültigkeit und Respektlosigkeit begegnen kann, die unter anderem die Grundlage vieler gewalttätiger, verbaler und körperlicher Übergriffe ist. Denn durch ihren beruflichen oder ehrenamtlichen Einsatz gewährleisten diese Menschen die präklinische und klinische medizinische Notfallversorgung für die Gesellschaft in den schwierigen bestehenden Rahmenbedingungen.
Katharina Otocki-Gören, stv. Pflegedirektorin und Fachkrankenschwester für Anästhesie- und Intensivpflege am AGAPLESION Diakonieklinikum Rotenburg