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„Bewertungen“ im Arbeitsalltag

Bewertungen- Achtsamkeit Teil II

Eine Tatsache, die uns das Leben so schwer macht, ist die Bewertung. Wir bewerten ständig und überall und alles. Bewertung gehört zum Leben einfach dazu. Wenn ich mir Schuhe kaufen möchte, muss ich entscheiden, ob sie mir gefallen oder nicht. Wenn ich die Dose Fisch essen möchte, die schon ein paar Tage geöffnet ist, muss ich anhand von Geruch, Farbe, (gefühlte) Tage geöffnet usw. bewerten, ob ich es noch essen möchte oder lieber nicht. Ein Beispiel aus meinem Arbeitsalltag soll verdeutlichen, an welcher Stelle Bewertungen schwierig sind.

Wenn ich zum Dienst komme, bekomme ich eine „Übergabe“. Sie berichten davon, was in der letzten Schicht so war und was ich noch zu tun habe. Ein Satz könnte lauten: „Das war ein schrecklicher Dienst, ich hatte so viel zu tun, du wirst keine Ruhe haben. Ich hatte kaum Zeit zum Frühstücken und bin froh, dass der Dienst vorbei ist“. Das löst bei mir Unbehagen aus. „Was erwartet mich?“ „Werde ich meinen Dienst schaffen?“. Am liebsten möchte ich wieder nach Hause. Die Ankündigung meiner Kollegin macht mir Sorge/ Unbehagen. Wenn ich recht überlege, was hat meine Kollegin eigentlich Inhaltlich gesagt? Eigentlich nur, das ihr Dienst schrecklich war. Mehr weiß ich gar nicht. Eine Übergabe ohne Bewertung, könnte so aussehen:

„Ich habe viel telefoniert. Bei dem Patienten, den ich aufgenommen habe, ist nur Blut abgenommen worden. Den Rest der Aufnahme musst Du noch erledigen. Außerdem war eine Hygiene- Begehung, die hat Zeit gekostet. Deswegen sind die Bestellungen nicht gelaufen, müsstest Du noch nachholen“. Damit weiß ich genau, warum der Dienst heute Morgen so anstrengend war und was ich noch konkret zu tun habe. Ich kann mir selbst überlegen, ob das für mich „schrecklich“ ist oder eben auch nicht. Das macht mir weder Sorge noch Unbehagen, denn das kann ich einschätzen. Mit einer reinen Bewertung: „Das war so schrecklich“, damit kann ich nichts anfangen und mich auch nicht darauf einstellen. Das macht mich eher unruhig.

Wenn Menschen an unserer Achtsamkeitsgruppe teilnehmen (Grundsätzlich alle Patienten der Station 52) bekommen sie ein Vorgespräch, in dem ihnen erklärt wird, warum Bewertungen so schwierig sein können. Wir in der Achtsamkeitsgruppe darauf achten wollen, Bewertungen aufzudecken und umzuformulieren. In jeder Sitzung bekommt ein Teilnehmer die Aufgabe, besonders auf Bewertungen zu achten und ein Zeichen zu geben, wenn Bewertungen auffallen. Dann versuchen wir gemeinsam Umformulierungen vorzunehmen z.B.: „Ich schaffe es nicht, diese Übung richtig zu machen“ in „Ich schaffe es, mich 1 Minuten auf die Übung einzulassen, von den gedachten 2 Minuten“. Und das macht was mit mir. Ob ich denke: „Ich schaffe das zur Hälfte“ oder mir sage: „Ich schaffe das nicht“ – was auch einfach nicht wahr ist.

Bewertungen sind für uns selbstverständlich und „normal“, sodass wir sie gar nicht wirklich wahrnehmen. Sie beeinflussen aber unsere Wahrnehmung und unser Verhalten. Negative Bewertungen führen in der Regel dazu, dass wir uns von einer Sache abwenden. Dadurch verhindern wir, neue Erfahrungen zu machen. Sie lösen auch unangenehme Gefühle aus.
Es geht im Achtsamkeitstraining auch nicht darum, negative Bewertungen in positive umzukehren. Sondern auf Bewertungen zu achten. Man sollte versuchen zu beschreiben, statt zu bewerten. Jeder kann entscheiden, wie er mit Bewertungen umgehen möchte. Es gilt den Unterschied zu erkennen zwischen objektiven Tatsachen und subjektivem Erleben.

Die achtsame Haltung der Bewertung hat mir geholfen, Dinge detaillierter zu hinterfragen, dann werden sie auch in meinem Kopf konkreter und ich kann gelassener sein. Das möchten wir unseren Patienten vermitteln, Bewertungen im Leben an der richtigen Stelle zu hinterfragen, um gelassener und damit resilienter durchs Leben gehen zu können.

Quelle: Achtsamkeitstraining- Ein Trainingsmanual für psychiatrische Patienten, 2018 (W. Kohlhammer, Stuttgart)

 

David Witte

David Witte

Gesundheits-und Krankenpfleger und freigestellter Praxisanleiter im Zentrum für Psychosoziale Medizin,
am AGAPLESION Diakonieklinikum Rotenburg

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